EIN BERICHT AUS LESVOS – ZWISCHEN ISOLATION UND WIDERSTAND
Stürmische Zeiten. Zwei politische Themen, die dieser Tage nicht aus den Zeitungen herauszudenken wären. Covid-19 und die regide Abschottungspolitik Europas vermischt sich in unseren Köpfen zu einem allumfassenden Unsicherheits- und Ausnahmegefühl. Die sozialen Medien werden mit neuen Hashtags überschwemmt, allen voran #staythefuckhome und #washyourhands. Und damit spiegelt sich die Absurdität dieser Forderungen wider: Wie sollen Menschen auf der Flucht, explizit in einem Camp wie Moria, zu Hause bleiben und sich regelmäßig die Hände waschen?Wir sind zwei unabhängige Aktivist*innen, die seit ca. 2 ½ Jahren regelmäßig auf die Insel Lesvos kommen, um hier migrantische Kämpfe zu unterstützen. Als Kollektivmitglieder des No Nation Trucks waren wir bereits an mehreren europäischen Außengrenzen politisch aktiv. Mit diesem Artikel wollen wir mehrere Aspekte zusammen denken: die Auswirkungen der Coronakrise, die Verhältnisse auf Lesvos und der damit einhergehende globale Rechtsruck.
/ ZUSTÄNDE IN MORIA BEGÜNSTIGEN KRANKHEITSAUSBRÜCHE ANSTATT SIE EINZUDÄMMEN
Moria, der Abschiebeknast auf Lesvos und zugleich das größte Geflüchtetencamp Europas. Eine ehemalige Militärkaserne, die seit 2015 als Internierungslager für Flüchtende auf der griechischen Insel fungiert. Die angedachte Kapazität des Lagers beträgt 2.800 Personen. Im April 2020 befinden sich im Camp und dem dazugehörigen Olive Grove ca. 24.000 Menschen, darunter über 40% Kinder. Die sanitären Missstände und unzureichende medizinische Versorgung machten in den vergangenen Jahren regelmäßig Schlagzeilen. Mit dem Coronavirus verschärft sich die Lage erneut dramatisch und es droht eine humanitäre Katastrophe, der niemand gewappnet zu sein scheint. Fließendes, warmes Wasser gibt es für durchschnittlich fünf Stunden am Tag. Das heißt auch, dass Händewaschen am Rest des Tages nicht möglich ist. 1300 Menschen teilen sich einen Wasserhahn.Es gibt lange Schlangen vor den Duschen, bei Toilettengängen und Essensverteilungen. Dabei die zwei Meter Sicherheitsabstand einzuhalten ist schlichtweg unmöglich. 250 Menschen teilen sich eine Toilette. Wie ihr auf den Bildern sehen könnt, sind die Toiletten zusätzlich bis aufs Letzte verdreckt und werden nicht regelmäßig gereinigt. Die Zelte und Hütten, in denen die Menschen leben, stehen dicht an dicht. In den meisten Fällen befindet sich lediglich ein schmaler Gang neben jedem Zelt, um hinein und heraus zu gelangen. Auch hier ist der vorgegebene Sicherheitsabstand de facto nicht umsetzbar. Es gibt kein Abwassersystem. Bakterien und Keime vermehren sich in Windeseile. Unter den gegebenen Zuständen wäre eine rasante Ausbreitung der Krankheit unumgänglich
/ EUROPA SIEHT ZU ANSTATT ZU HELFEN
Doch diese Missstände sind systematischer Natur. Fluchtsuchende sollen international abgeschreckt werden und die gefährliche Reise nach Zentral- und Westeuropa gar nicht erst antreten. Während der letzten Wochen arbeiteten wir an dem Bau einer Corona-Isolierstation mit, welche mit 20 Holzhäusschen Kranke isolieren und medizinische Hilfe ermöglichen sollen. In jedem Haus sollen vier Erkrankte Platz finden. Man braucht sich jedoch die Zahlen gar nicht näher ansehen um zu verstehen, dass 20 Häuser für 80 kranke Menschen schlichtweg zu wenig sind. Ein Tropfen auf den heißen Stein und ein weiteres Armutszeugnis für die europäische Migrationspolitik. Bei 24 000 Menschen kann diese Maßnahme als purer Hohn verstanden, eine leere Phrase um das eigene Versagen weiter zu retuschieren.Europaweit ist es bei jeglichen Großveranstaltungen möglich, genügend Toiletten, Duschen und fließendes Wasser zur Verfügung zu stellen, z.B. bei Rock am Ring mit 87.000 Besucher*innen. Das sind Zahlen, die einem Vielfachen der Personen in Moria entsprechen.
/ LESVOS ALS KNOTENPUNKT DER EXTREMEN RECHTEN EUROPAS
Ursprünglich entschlossen wir uns nach Lesvos zu gehen, nachdem uns immer mehr Nachrichten erreichten, die von Angriffen auf Geflüchtete und Supportstrukturen berichteten. Gezielte Steinwürfe auf neu ankommende Geflüchtete in Schlauchbooten, von Faschist*innen verwaltete Checkpoints und die in Brandsetzung der Schule und Freizeiteinrichtung „One Happy Family“. Mittlerweile hat sich die Lage beruhigt. Vermutlich auch wegen der strikten Ausgangssperre, die in Griechenland seit dem 23. März 2020 verhängt wurde. Eine auffällige Überschneidung zu Deutschland ist hier, dass mit Beginn der Coronakrise anderen politischen Themen keine Relevanz mehr zugeschrieben wird, sich die Öffentlichkeit diesen Themen kontinuierlich abwendet oder sie gar in Vergessenheit geraten. Denken wir dabei an den sich weiter verschärfenden Rechtsruck, welcher in den letzten Monaten in Deutschland immer weiter in den Fokus des gesellschaftlichen Diskurses gerückt wurde und in den Attentaten von Halle oder Hanau Tote forderte. In der gegenwärtigen Situation lässt sich nur hoffen, dass diese Sud keinen weiteren Nährboden im nationalbesinnten Bürger*innentum der Coronakrise findet. Auf Lesvos ließ sich diese Fusion bereits beobachten. Zu den oben benannten Taten bekennen sich Rechtsextreme und Nationalist*Innen. Was wir an dieser Stelle betonen möchten ist, dass diese Aktionen unter den Ersten waren, die von internationalen Faschist*innen verübt wurden und sich direkt gegen Geflüchtete und ihre Supporter*innen richteten. Damit nimmt die braune Vernetzung auch auf Europaebene ein weiteres Ausmaß an.Extreme Rechte fängt an ihr internationales Potential zu nutzen und sich dabei die politische/gesellschaftliche Situation zu eigen zu machen. Anhänger*innen der Identitären Bewegung aus Deutschland und Frankreich reisten nach der einseitigen Grenzöffnung der Türkei und den damit verbunden Unruhen an der griechisch-türkischen Grenze in die Evros Region oder aber auf die Insel Lesvos. Die lokale Antifa reagierte ebenfalls kurzerhand und ließ die selbsternannten Beschützer*innen der Festung Europa schnell wissen, dass sie auf Lesvos nicht willkommen sind. Spätestens seit der Gründung der Fraktion „Identität und Demokratie“ im Europaparlament ist klar, dass sich die Neue Rechte länderübergreifend organisiert. Doch die Zusammenkunft der Rechtsextremen Europas auf Lesvos wurde außerhalb eines EU Parlaments oder einer spezifischen Partei geregelt. Das gemeinsame Feindbild und nationalistische Gedankengut einigt Faschist*innen aus allen Ländern. Mit dem gemeinsamen Agieren auf griechischem Boden wurde ein weiteres Level im globalen Rechtsruck erreicht.
/ JETZT IST DAS HANDELN JEDER*S EINZELNEN GEFRAGT
All diese Gedanken und Eindrücke lassen uns als Kollektiv und unter Genoss*innen nur mehr zusammenrücken. Wir, als Teil des No Nation Trucks, sehen uns in Anbetracht der Lage noch weiter in die Verantwortung genommen. Denn dabei ist nicht zu vergessen, dass die griechischen Inseln meist nur eine der ersten Stationen für Geflüchtete sind. Überfüllte Camps bedeuten mittelfristig, dass auch auf der Balkanroute wieder mehr Menschen unterwegs sein werden. So trafen wir z.B. im Frühling 2019 in Bosnien zwei Freunde, die wir wenige Monate zuvor auf Lesvos kennengelernt hatten. Sie hatten es inzwischen von der Insel aufs Festland geschafft und sich weiter auf die Balkanroute begeben. Deshalb betrifft dies unmittelbar den zukünftigen Arbeitsfokus des No Nation Trucks.
Organisiert euch in Gruppen – bildet Banden – zeigt Solidarität.
NoNationTruck, April 2020.